Realistische Bleistiftzeichnung

Realistisch zeichnen

Ich bin hin und wieder mal mit der Frage konfrontiert, ob das realistische Zeichnen denn überhaupt Kunst ist. Manchmal ist das auch nicht als Frage, sondern als Unterstellung formuliert: „Du kopierst doch nur!“ Es ist nicht so, dass mich eine solche Frage oder Aussage sonderlich trifft. Aber ich denke durchaus darüber nach. Ja, man kann das Zeichnen als reines Handwerk verstehen. Die richtigen Techniken und viel, viel Übung – damit kann so ziemlich jeder lernen, eine gute Zeichnung zu Papier zu bringen. Wirklich! Das ist kein besonderes Talent. Aber beim realistischen Portraitzeichnen braucht es vor allem eine Fähigkeit: Man muss zunächst lernen, wirklich genau hinzusehen. Kaum einer wird das Gesicht seines Gegenübers so eingehend betrachten wie ein Portraitzeichner. Stunde um Stunde verbringt er damit, das Gesicht der Person, die er portraitiert, zu studieren. Im Idealfall schafft man es, nicht nur ihr Aussehen, sondern ebenso ihr Wesen, ihre gesamte Persönlichkeit einzufangen und mit dem Bleistift wiederzugeben. Kein Gesicht ist wie das andere. Auch wenn wir alle im Prinzip nach dem gleichen Bauplan gemacht sind, so ist doch jeder Mensch mit seinen Augen, seiner Haut und seiner Ausstrahlung absolut einmalig. Es ist diese unendliche Vielfalt menschlichen Aussehens, die so sehr fasziniert. Es geht nicht um Schönheit – es geht um Einzigartigkeit und Authentizität. Der Mensch ist das Kunstwerk –  vergleichbar mit einer Melodie. Und der Portraitzeichner spielt diese Melodie so exakt wie möglich nach, aber eben auf einem anderen Instrument. Macht das den Klang der Melodie weniger wertvoll? Man kann schon 1000 Portraits gezeichnet haben. Und  doch fühlt es sich jedes Mal wieder ganz neu an. Wie eine Wanderung in einer unbekannten Gegend. So wie „Gewandert bin ich schon mal, aber noch nie hier…“.  Man zeichnet ja nicht das, was man gewohnt ist, sondern das, was man sieht. Und das ist in jedem Fall neu und faszinierend. Beim Zeichen lerne ich die Person, die ich portraitiere, ein Stück weit kennen.

Manche Eigenschaften stehen uns regelrecht ins Gesicht geschrieben. Andere verbergen wir hinter einer Fassade. Allein unsere Haut spricht Bände, gibt einen Eindruck über Alter, Erfahrung und Lebenswandel. Fältchen und Narben erzählen ihre Geschichte. Unsere Augen lassen tief blicken. Ein falscher Bleistiftstrich und die Augen bekommen einen ganz anderen Ausdruck. Die Stimmung im Inneren spiegelt sich auf dem Gesicht wieder. Ich erkenne, wie die Person sich gefühlt hat als das Vorlagenfoto aufgenommen wurde. Ich erkenne, welche Maske die Person aufgesetzt hat, welche Rolle sie gerade für das Foto eingenommen hat. Vielleicht erkenne ich sogar, warum die Person in diese bestimmte Rolle schlüpft. Ich bekomme einen Eindruck, wer diese Person ist, was sie bewegt und was sie ausmacht, wie sie denkt, wie sie fühlt, wie sie lebt. Und vielleicht…. liege ich mit all dem vollkommen falsch. Weil ich die Zeichen falsch deute. Weil ich etwas nicht richtig verstanden habe. Oder weil ich einfach eine andere, ganz eigene Sicht der Dinge habe. Jeder von uns kann ein und denselben Menschen völlig unterschiedlich wahrnehmen. Und so passiert es, dass es eben nicht nur ein „Kopieren“ ist. Betrachtest du ein Bleistiftportrait, dann siehst du eine Person nicht so, als würde sie real vor dir stehen. Du siehst sie durch die Augen des Zeichners. Es kommt immer die persönliche Note hinzu – ganz automatisch. Das Portrait ist eine Interpretation, keine Kopie, so nah sie auch an das Original herankommen mag. Gib 10 verschiedenen Künstlern das gleiche Portraitfoto als Vorlage und lass sie dieses abzeichnen. Du wirst 10 verschiedene Ergebnisse erhalten, auch wenn alle sich ausdrücklich dem realistischen Zeichnen verschrieben haben. Gesichter zu zeichnen bedeutet viel, viel mehr, als nur den Bleistift über das Papier zu bewegen. Der Moment, in dem der Bleistift das Papier berührt, ist der letzte Schritt dieses ganzen Prozesses. An erster Stelle steht das Sehen, dann das Verstehen, das Verarbeiten und Interpretieren und am Ende all das in eine Zeichentechnik zu konvertieren uns auf das Papier zu bringen. Es ist viel spannender als es viele für möglich halten würden. Und es verändert, wie du Menschen grundsätzlich wahrnimmst. Du wirst Gesichter viel intensiver betrachten. Du bemerkst kleinste Eigenheiten, Besonderheiten, stellst Schönheitsideale infrage. Dein Blick verändert sich, wenn du dich regelmäßig so ausführlich mit Gesichtern beschäftigst. In gewisser Weise schlägt das eigene Leben, die persönliche Entwicklung einen neuen Weg ein, wenn man beginnt, regelmäßig Gesichter zu zeichnen. Macht diese Hingabe es nicht wert, realistische Bleistiftzeichnungen als echte Kunst zu betrachten? Ich hoffe, dass das, was ich jetzt noch anmerke, nicht falsch verstanden wird. Kunst hat viele verschiedene Gesichter und nicht zu jeder Stilrichtung findet man einen Zugang. Ich persönlich habe beispielsweise ein gespaltenes Verhältnis zur abstrakten Kunst. Es gibt viele Künstler im abstrakten Spektrum, die ich absolut wunderbar finde und sehr wertschätze. Doch es gibt eben auch Künstler, deren Werk besteht zum Beispiel aus einem einzelnen willkürlichen Pinselstrich auf einer Leinwand, der mich an Kindergekritzel erinnert. Solche Werke werden meist ohne Weiteres ganz selbstverständlich als Kunst akzeptiert. Warum? Weil es sich um eine Interpretation eines Geschehnisses, eines Ortes, eines Gefühls, einer Person oder sonst etwas handelt. Der Künstler gibt seine persönliche Sichtweise wieder. Er sieht, verarbeitet, interpretiert und malt. Fällt dir da etwas auf? Jede Art von Kunst fußt doch irgendwie auf dem gleichen Prinzip. Und überhaupt: Schon mal in einer Gemäldegalerie gewesen? Hast du je darüber nachgedacht, den vielen Portraitmalereien, die dort hängen, abzusprechen, dass es wahre Kunstwerke sind? Diese Bilder der alten Meister dienten nur diesem einen Zweck, nämlich ein Abbild einer bestimmten Person zu schaffen. Denn fotografieren konnte man damals noch nicht. In vielen Fällen gibt es da nicht viel zu interpretieren. Die Bilder bedürfen keiner Erklärung, es sind einfach Portraits. Und sie sind so realistisch, wie es den alten Meistern mit den gegebenen Mitteln überhaupt nur möglich war. Selbstverständlich ist das Kunst!

 

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